Lindenduft

.. auf den Zug wartend, nehme ich ihn wieder wahr, diesen herbsüssen Duft, der in der Luft wiegt und einen wie eine zweite Haut umkleidet.. Es ist anfangs Juli und der Duft hängt in vielen Quartieren, verwöhnt die Sinne, ich geniesse es und warte jedes Jahr, bis es wieder soweit ist..

Meine Gedankengänge beginnen zu kreisen und ich rieche und rieche und lasse mich davontragen. Bilder tauchen auf, Bilder aus längst vergangenen Jahrhunderten. Damals als das Dorfgericht im Schutze des Baumes stattfand und es Pflicht war unter freiem Himmel Recht zu sprechen. Der Aberglaube beschrieb der Linde besonders vielfältige und starke magische Kräfte zu und unter diesem Baum galt man besonders vor Blitzschlag geschützt.
Ob ich wohl auch mal Recht sprach oder auf ein Urteil wartete?
Ob ich wohl auch mal unter einer Linde meine Liebste küsste, ihr Liebesschwüre ins Ohr flüsterte und in ihren Armen dem Rauschen der Blätter zuhörte? Oder gar unsere beiden Namen inmitten eines Herzens in den Stamm ritzte?
Ob ich wohl unter dem breiten Blätterdach auch geweint habe? Gar eine schlechte Nachricht empfangen habe? Ich diesem Baum meine Gedanken und Worte mitteilte und mir eine Antwort erhoffte?
Vielleicht sass ich mal im Herbst meines Lebens am Fenster und schaute den färbenden Blätter des Baumes zu und spürte in mir den nahenden Abschied? Oder ich liess aus Lindenholz für meine Kinder eine Wiege schnitzen?

All das weiss ich nicht und doch spüre ich mich mit diesem Baum eng verbunden..

Vorsicht, auf Gleis 3, Einfahrt..
Herausgerissen aus meinen Gedanken erhebe ich mich, atme nochmals den köstlichen Duft ein und steige in den Zug. Sicher empfängt mich am andern Ort, irgendwo, dieser Tage, dieser magische Duft. Es ist Juli..