Die Tageszeitung liegt vor mir. Vom 24. Juni 2028. Bequem sitze ich in meinem Zugsabteil. Aufgeregt bin ich schon, denn heute Morgen, in aller Früh, bin ich aus dem Altersheim „abgehauen“. Sicher werden sie mich schon vermissen, mich suchen. Aber ich mache nur das, was ich noch einmal wollte und mir niemand mehr zutraute. Eine Reise in den Süden.

Mir fällt ein Aufsatz vom Schriftsteller Peter Bichsel ein. Wir haben ihn damals gelesen, in der Schreibwerkstatt in Winterthur. Wann war das nur? So um 2010 muss das gewesen sein. Ja ja, die Zeit vergeht, die Erinnerung setzt ein. Damals schrieb Peter Bichsel von seiner Bahnfahrt, von Gossau, von Eisenach. Aber ich will weder ins östliche Gossau noch ins lutherische Mittelalter nach Eisenach. Ich bin in den Zug gestiegen, ich will in den Süden. Alt die Knochen, beschwingt der Gang, der Kopf noch voller Ideen.

Und Peter Bichsel schrieb von Salerno, Samarkand, Salamanca, Santa Cruz. Feuer im Wort. Das hat mir damals schon gefallen. Meine Hand fährt in die Innentasche meines Sakkos. Die Tickets, ich fühle sie. Zwar zittert meine Hand, aber ich halte die Papiere fest. Ziehe das Reiseetui heraus. Die Buchungsanzeige lautet auf mich, Rolf Schneider. Destination Florenz. Süden, Wärme, Kunstgenuss. Wein, feines Essen und gemütlich von Weingut zu Weingut. Das Richtige für einen Senior. „Doch, doch“ hatte die Dame im Reisebüro gesagt, „diese Reise können Sie gut unternehmen. Die Temperaturen sind angenehm, die Weingüter bereit, das Wetter stabil“. Ich habe ja gesagt, mein Sparguthaben geplündert. Ich freue mich auf Köstlichkeiten im Teller, im Glas und den blauen Himmel, die Fröhlichkeit der Menschen. Sogar Wanderschuhe habe ich dabei. Ich blättere in den Reiseunterlagen. Noch einmal in die Toscana, die alten Orte besuchen. Bilder ziehen vorbei, Bilder aus jungen Tagen, Bilder mit lachenden Menschen und ich mittendrin. An meiner Seite meine Liebe, was haben wir es genossen. Mit der Vespa durch die Städte gebraust, Florenz, Siena. Hand in Hand durch die milden Abende gebummelt, durch Weingüter gewandert. Lange habe ich gebraucht, bis ich wieder den Mut gefunden habe, wieder in diesen Landstrich zu reisen. Eine Seufzer entfährt mir.

„Ist Ihnen nicht gut“ fragt mich der Kondukteur? „Doch, doch“ lächle ich und reiche ihm das Ticket. „Glauben Sie mir, dass ich aus dem Altersheim abgehauen bin“? Fragend schaue ich ihn an. Der Kondukteur lacht. „Nein, das glaube ich Ihnen nicht“. Er zwinkert mir zu. „Auf jeden Fall liegt keine Vermisstenanzeige vor. Wir sind kurz vor der Grenze. Ich wünsche Ihnen eine gute Weiterreise“. „Mille Grazie“ sage ich noch, die Abteilungstüre gleitet zu und meine Gedanken weiter. Gestern ist vorbei, ich bin im Heute unterwegs. Toskana ich komme …