Sinnend blickt Carlo auf die letzten auf seinem Wintermantel schmelzenden Schneeflocken. Draussen schneit es heftig,  fallen dichte Schneeflocken, lassen auf Allem einen weichen Schneeteppich weben. Hier, im Innern der Kirche, an einem Konzert, bewegt sich Carlo auf dem  Klangteppich von Smetana’s Moldauwerk.

 

… die Moldau am entstehen. Das junge Bächlein, unbeschwert, ein Rinnsal, vor sich hinplätschernd. Flöten und Klarinetten symbolisieren seine Leichtigkeit, Triangeln wie Regentropfen. Das Wasser findet sich und windet sich um sanfte Hügel durch das Tal und die umliegenden Berge, die Wälder. Von den Bergwänden strömt Wasser zu, lässt das Bächlein wachsen, gibt ihm Kraft. Die Moldaumelodie trägt einen fort.

 

Carlo blickt auf und lässt seinen Blick auf die gegenüber sitzenden Zuhörer schweifen. Sein Blick bleibt an einem Augenpaar hängen. Diese Augen blicken ihn an. Sie gehören zu einem fein geschnittenen Gesicht. Offene Augen, zart geschwungene Lippen, alles umfangen von grauen Locken. Carlo blickt weg, einen Moment lang, dann wieder zurück. Die Augen einer Frau sehen ihn immer noch an. Neben ihr sitzt ein alter Mann, vielleicht ihr Vater. Carlo und die Unbekannte mustern sich, wach, interessiert, neugierig

 

… weiter begibt sich der Fluss auf seiner Reise, fliesst durch Wälder und Flure, erlebt die Landschaft, erlebt eine Waldjagd. Jagdszenen, gekennzeichnet durch den Klang von Hörnern. Weiter, weiter schlängelt sich die Moldau, durch Auen, fliesst an einer Bauernhochzeit vorbei. Unverkennbar die fröhlichen Tänzer einer Hochzeitsgesellschaft.

Wer mag sie wohl sein, denkt Carlo. Weshalb ziehen mich ihre Blicke so an? Und wieso fühle ich mich so zu ihr hingezogen? Ja, sie meint mich mit ihren Blicken. Sie ist schön, auf eine eigenwillige Art sogar sehr schön. Ich geniesse es, wenn sie mich ansieht.

 

… wie vor der Kirche ist es um die Moldau Nacht geworden. Silbern blinkt der Mond und der Fluss fliesst im hellen Licht des Mondscheins an Wiesen vorbei. Wiesen, auf denen zarte Nymphen einen  Reigen tanzen. Lange tanzen.

Verstohlen mustert Carlo sie wieder. Ihr Begleiter hat sich zu ihr geneigt und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie tätschelt seine Hand. Ja, es muss ihr Vater sein. Carlo sieht sein zerfurchtes Gesicht im Profil. Der alte Mann lächelt. Nun blickte die Frau wieder zu Carlo. Ein leichtes Lächeln um ihre Lippen, das sich langsam bis zu ihren Augen zieht. Carlo lächelt ebenfalls und lässt ein kurzes Nicken folgen. Sie nickt zurück.

 

… herrlich nun wieder die Moldaumelodie. Die Moldau ist nun ein breiter Strom, ein Fluss inmitten seines Lebens, gross, erfahren. Nirgends lässt er sich lange aufhalten, nicht aus der Ruhe bringen. Er strömt dahin.

Wieder blicken sich die Beiden an, lassen nicht voneinander los.

 

… da, ein Aufbäumen. Stromschnellen, die Spannung erreicht den Höhepunkt. Paukenschläge und laute Blechbläser verdeutlichen die vielen Stromschnellen und das bedrohlich rauschende Wasser. Um die Biegung, der Engpass ist überwunden Majestätisch strömt nun die Moldau Prag zu. Jetzt ist sie zur Ruhe gekommen und strömt, strömt majestätisch weiter um sich in die Ferne zu begeben, sich in die Elbe zu ergiessen. Ein gewaltiger Paukenschlag ertönt. Nein, es ist nicht das Ende, es ist der Anfang, in der Elbe lebt sie weiter.

Lang anhaltender Applaus ertönt. Alle stehen auf, strömen dem Ausgang zu. Carlo sucht die Frau. Sie ist etwas weiter vorne, stützt den alten Mann. Beim Seitenausgang stehen sich Carlo und die Fremde gegenüber, blicken sich lange an und lächeln. Keiner sagt etwas. Ein Zauber liegt in der Luft. Im Licht der Strassenlaterne fallen leise die Flocken. Jedes geht hinaus in die Nacht und in eine andere Richtung. Und weiter fällt der Schnee.