Portrait (aufgrund eines ausgewählten Bildes)

Emma rollt den langen Gang entlang. Bald muss sie sich entscheiden in welche Richtung sie fahren will. Nach links in die Cafeteria oder nach rechts zu ihrem Zimmer. Andere Möglichkeiten hat sie nicht. Und auch in ihrem Leben wird es nicht mehr so viele Wahlmöglichkeiten mehr geben, denn Emma zählt stolze 95 Jahre.

Unlängst wurde ihr Namen unter den jüngsten Jubilaren im Radio verlesen. An ihrem Geburtstag besuchten sie den ganzen Tag über Menschen aus nah und fern. Nicht nur ihre Familie, Verwandte und Bekannte waren da gewesen, nein, auch viele die Emma ans Licht der Welt gebracht hatte. In einem Bergtal war sie jahrzehntelang als Hebamme tätig gewesen. Und es gab kaum jemanden, den sie nicht mit ihren Händen ins Leben hinaus getragen hatte. Sogar dem heutigen Gemeindepräsidenten hatte sie mit einem kräftigen Klaps auf den Hintern zum ersten Schrei verholfen. Und Gemeindepräsident Brunner gehörte zu den ersten Gratulanten. „Heute gebe ich dir aber keinen Klaps mehr“ schmunzelte Emma als sie den Ehrenwein der Gemeinde erhielt. Und der Gemeindepräsident lachte schallend.

Emma wuchs in dieser Tallandschaft auf. Sie war eine Hiesige. Genoss rundherum Respekt und Anerkennung. „In diesem Tal wurde ich geboren und hier will ich auch sterben“, sagte sie immer wieder. Emma ging hier zur Schule. All die Jahre. Und nur mit Hilfe des Pfarrers konnten damals die Eltern überzeugt werden, dass „ihre“ Emma in der entfernten Kantonshauptstadt die Hebammenschule besuchen durfte. Es war für sie nicht immer leicht gewesen in der Fremde. Und so zog sie nach der Ausbildung wieder nach Hause zurück. Und blieb dann dort. Nicht nur der Heimat wegen. Emma war ein bildhübsches Mädchen, gross und schlank und hatte ein wunderschönes Lachen. Und sie fand hier ihre grosse Liebe, Johannes. Mit ihm gründete sie eine Familie, bekam Kinder. Viele Kinder. Wenn sie nicht selber schwanger war, half sie werdenden Müttern bei den Geburten, später in der Pflege oder bei der Erziehung der Kinder.  Aber sie war auch „Geburtshelferin“ bei Ehestreitigkeiten oder wenn es galt, dass sich Zwei zusammenfanden.

Bei Wind und Wetter war sie unterwegs gewesen mit ihrem braunen Köfferchen, das sie von Johannes zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte. Ab und zu, wenn sie ermüdet von einer Geburt, nach Hause fuhr, hatte sie das Köfferchen im Geburtszimmer stehen gelassen. Doch bald darauf brachte es jemand wieder zu ihr zurück und bekam als Dankeschön ein strahlendes Lächeln geschenkt. Das braune Köfferchen, das so viele Geschichten erzählen könnte, stand immer noch bei ihr auf  der Kommode.

Um Emma war es einsam geworden in den letzten Jahren. Schon vor vielen Jahren war Johannes gestorben und die Kinder ausgeflogen. Und daher war es für sie naheliegend gewesen ins hiesige Alterszentrum einzutreten. Hier fühlte sie sich wohl und betätigte sich als eifrige Sängerin im Gesangschor. Gesungen hatte sie schon früher, als kleines Mädchen.

Ja, früher. Emma scheute nie eine Auseinandersetzung. Was sie beschäftigte, das musste ausdiskutiert werden. Und mehr als einmal griff sie mit treffenden Worten an Gemeindeversammlungen in die Diskussionen ein. Es hatte Hand und Fuss was sie jeweils vorbrachte. Und Johannes war stolz auf seine Emma. Er war lieber im Hintergrund geblieben. Zwar wurde er öfters belächelt, „man wisse schon, dass Emma zuhause die Hosen anhabe“, aber das kümmerte ihn nicht. Es war nicht immer einfach gewesen zusammen, aber beide hatten in der Beziehung ihren Weg gefunden.

In der freien Zeit wanderten sie beide gerne in den Bergen. „Vom Himmel komme ich, zum Himmel gehe ich“. So drückte sich Emma aus, wenn sie wieder mal auf einem Gipfel die Aussicht genossen. Emma hatte nicht viel Freizeit. Die Familie war da und als Hebamme war sie vielfach Tag und Nacht unterwegs gewesen.

So gingen die Jahre vorbei. Emmas Haare wurden weiss, der Gang gebückt. Und nun war Emma auf den Rollstuhl angewiesen.

Heute fühlte sich Emma müde und wählte den Weg zu ihrem Zimmer.